Textanmerkungen zu Carmina Burana

(ohne Dateilink, nur mit Verweisen auf andere Weltnetzseiten)

Die Carmina Burana sind eine goße Liedtextsammlung aus dem 13. Jahrhundert zu vielen Themen, größtenteils in Latein, teils im damaligen Deutsch, und zwar sowohl in Dialekt als auch im damaligen Hochdeutsch der Minnesänger. Mehr dazu schreibt Wikipedia. Erstmals wurde es 1847 als Buch veröffentlicht, in der Ausgabe von Johann Andreas Schmeller. Eine ebenfalls vollständige Ausgabe findet man in der Bibliotheca Augustana.

Carl Orff hat den Text für sein gleichnamiges Musikwerk vollständig aus dieser Sammlung entnommen, konnte aber nur eine kleine Auswahl daraus entnehmen. Textübersetzungen für diese Auswahl gibt es etliche; u.a. eine anonyme, die ziemlich wortgetreu ist, und eine freizügig interpretierte von Martin Schlu 2001.

Der Wortlaut stimmt bei Orff überall mit Schmeller und mit der Bibliotheca Augustana überein. Die Rechtschreibung ist jedoch in allen drei Werken an manchen Stellen unterschiedlich. Zudem hat der Schott-Verlag nacheinander verschiedene Fassungen von Orffs Werk herausgegeben, und selbst da unterscheidet sich die Rechtschreibung schon ein wenig, vermutlich teils Druckfehler. Und die Abschriften, die man heute im Weltnetz zuhauf findet, können Tippfehler enthalten.

Jeder Chor, der Orffs Werk singt, ist verpflichtet, nur die Originalnotenblätter des Schott-Verlages zu verwenden. Es bringt jedoch manchmal Verwirrung, daß die Rechtschreibung darin inkonsequent ist: Im lateinischen Text steht z.B. häufig „michi“, aber an einigen wenigen Stellen „mihi“.

Noch mehr Inkonsequenz hat Orff (aber nicht nur er) bei den wenigen deutschen Texten, was meistens am Nebeneinander von Dialekt und damaligem Hochdeutsch liegen dürte: Z.B. steht in Nr. 7 und Nr. 9C „mich“, jedoch in Nr. 10 „mih“; in Nr.7 steht „mime“, jedoch in Nr. 10 „miner“ oder „minen“.

Durchgängig und konsequent geht es wohl höchstens, wenn man sich so weit wie möglich an das damalige Schrift-Hochdeutsch hält. Aber wie ging das? Als Richtmaß empfiehlt sich Walther von der Vogelweide: Er schreibt „wære“, „mich“, „ich“, „dich“, „sich“, „nâch“, „mîn“, „dîn“, „sîn“, „mînem“, „mînen“ usw. Die Buchstaben â ê î ô û sind lang gesprochene Selbstlaute, und æ œ iu sind lang gesprochene Umlaute. Hingegen werden normal geschriebene Selbstlaute und Umlaute kurz gesprochen. Ein z im Wortanlaut oder nach einem Mitlaut wird als ts gesprochen, so wie das heutige z ; ansonsten wird z wie ß gesprochen. Achtung: Ein e am Wortende ist manchmal stumm, das kommt in der zweiten Zeile von Nr. 10 dreimal vor. Und das Schwierigste: Es gibt Zwielaute (Diphthonge), die im 14. Jahrhundert aus dem Gebrauch kamen, also zwei gesprochene Selbstlaute hintereinander in einer Silbe. Dies sind: ei (gesprochen ähnlich wie in englisch day), ie (gesprochen i und e wie in Kralle), ou (gesprochen o wie in Hof und u), uo (gesprochen u und e wie in Kralle), üe (gesprochen ü und e wie in Kralle), öi bzw. öu (gesprochen ähnlich wie in englisch show). Mehr Eräuterungen dazu bringt Wikipedia.

Diese Regeln gelten aber nur bedingt für Nr. 8, das Chramer-Lied, weil es erst aus dem 14. Jahrhundert stammt, als die deutschen Langvokale und Zwielaute (Diphtonge) stark im Umbruch waren. Orff, die Bibliotheca Augustana und Schmeller schreiben in Nr. 8 alle teils Mittelhochdeutsch, teils spätmittelalterliches Deutsch, und alle drei in verschiedener Weise. Orff ist mit seiner Rechtschreibung beim iu, beim f und beim uo inkonsequent, die Bibliotheca Augustana und Schmeller sind bei anderen Vokalen ähnlich inkonsequent. Nur der Vergleich zwischen allen läßt diese Inkonsequenzen verschwinden, aber nur so, daß einige Laute hochmittelalterlich und andere spätmittelalterlich bleiben. Inhaltlich ist zu diesem Lied anzumerken: Es stammt aus einer theatermäßigen Passion über Jesu Kreuzigung, in Latein, bis auf einige zugehörige Lieder wie dieses, und es ist Maria Magdalena in den Mund gelegt.

In Nr. 10 ist von der Königin von „Engellant“ die Rede. Unklar bleibt, ob das Land der Engel gemeint ist (dann muß die Königin Jesus' Mutter Maria sein) oder der Inselstaat England, dann ist die angesprochene Königin wahrscheinlich Eleonore von Aquitanien, die Mutter von Richard Löwenherz und Johann ohne Land, die man durch Robin Hood kennt. Sie muß nämlich in Europa Aufsehen erregt haben, weil ihre erste Ehe mit dem König von Frankreich annuliert wurde, was selten vorkam, sogar ohne Widerstand der Kirche. Außerdem wurde ihr nachgesagt, sie sei liebestoll gewesen.

Das besagte Schrift-Hochdeutsch ging Mitte des 13. Jahrhunderts unter, trotz späterer Abschriften wie der Manessischen Handschrift, und dann gab es lange Zeit nur noch Dialekte. Im 14. Jahrhundert bildeten sich dann die besagten Langvokale und Zwielaute allmählich um (deswegen unterscheidet sich in den Carmina Burana das Deutsch in Nr. 8 von den übrigen deutschen Stücken), und schließlich wurden sie ähnlich den heutigen (siehe z.B. Oswald von Wolkenstein), so daß die nachfolgenden Generationen sicher Mühe gehabt hätten, das alte Mittelhochdeutsch noch zu verstehen. Darum konnte es Martin Luther nicht mehr für seine Bibelübersetzung brauchen, sondern mußte dafür ein neues Hochdeutsch schaffen, das größtenteils ans Fränkische angelehnt ist, aber auch Merkmale seiner Muttersprache aus dem heutigen Sachsen-Anhalt wiedergibt. Und sein Hochdeutsch ist bis heute üblich, allerdings gab es seither manche mehr oder weniger große Rechtschreib-Reformen.